Kommunale Armut und Armutsbekämpfung zwischen Spätmittelalter und Gegenwart

Kommunale Armut und Armutsbekämpfung zwischen Spätmittelalter und Gegenwart

Organisatoren
Karl-Lamprecht-Gesellschaft Leipzig und Leipziger Geschichtsverein, Leipzig
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.10.2003 - 25.10.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Monika Gibas, Leipzig

Die Wahl des Themas der Tagung erfolgte aus verschiedenen Gründen. So bestehen einerseits Defizite in der sächsischen Forschungslandschaft auf dem Gebiet der Sozialgeschichte der Unterschichten und eine (be)drückende Dominanz politikorientierter Untersuchungsprojekte. Andererseits existiert eine ausgesprochen günstige Überlieferungssituation an einschlägigen Quellen im obersächsischen Raum und eine brennende Aktualität des Gegenstandes. Die konzeptionellen Leitlinien sahen vor, die Tagungsthematik epochenübergreifend, räumlich vergleichend und interdisziplinär zu behandeln. Damit sollten möglichst viele der unterschiedlichen Felder des Konferenzgegenstandes berührt und schließlich bei den derzeitigen sozialen Problemen angelangt werden. Die lokalen Umstände wurden dabei dem generellen Sachrahmen - bis hin zu globalen Prozessen und Konsequenzen - zugeordnet, wodurch das Lokale bzw. Regionale zwar der vordergründige Untersuchungsraum blieb, zugleich aber nach übergreifenden und allgemeinen Antworten gesucht wurde. Dieses anspruchsvolle Vorhaben machte einen Kreis von Mitwirkenden erforderlich, der bereit war, sich auf ein solches Konzept einzulassen und es mitzutragen. Es kann konstatiert werden, dass das ohne Ausnahme gelang. Unter so gearteten Bedingungen fand eine Konferenz mit 15 vorbereiteten Beiträgen statt, die auf eine beispielhaft offene und konstruktive Gesprächsbereitschaft stießen. Weit über 100 Anfragen, Repliken, Ergänzungen und Präzisierungen lassen die Lebhaftigkeit der Diskussion bereits quantitativ deutlich werden, die zudem in einer überaus sachorientierten und kollegialen Weise geführt wurde, ohne dass Standpunkte dabei verwischt worden wären. Die Anwesenheit zweier mehrköpfiger "Lager" - eines vom Sonderforschungsbereich "Fremdheit und Armut" der Universität Trier und eines vom Institut für Geschichte der Universität Salzburg - erwies sich hier als besonders fruchtbar. Das traf ebenso auf die Versammlung unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen zu: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Soziologie, Pädagogik, Germanistik, Politikgeschichte, Theologie/Kirchengeschichte sowie Rechtswissenschaft/Rechtsgeschichte.

In einem abendlichen Vorprogramm am 23. Oktober, das der Einstimmung und dem ersten Kontakt der Teilnehmer diente, stellte Prof. Dr. Dr. Gerhard Ammerer (Salzburg) sein Buch "Heimat Straße" (Wien-München 2003) vor, in dem er sich mit den österreichischen Vaganten, vornehmlich des 18. Jahrhunderts, auseinandersetzte. Er charakterisierte dabei zunächst den materiellen und nichtmateriellen Lebensraum der vagierenden Bevölkerung und anschließend deren Alltag in anschaulicher Detailliertheit bis hin zu Körper und Sprache, Kleidung und Alkohol, Bettel und Sterben - um wenige Schlagworte aus dem Themenkatalog zu benennen. Es versteht sich, dass sich dem eine recht weitgreifende Diskussion anschloss, die v.a. die Probleme von Bettlern und Kleindieben in vergleichender Sicht zum Gegenstand hatte und der von Ammerer behandelten österreichischen Situation die Verhältnisse in anderen Gebieten an die Seite rückte.

Am 24. Oktober eröffneten dann Bürgermeister und Stadtkämmerer Peter Kaminski sowie die Vorsitzende des Leipziger Geschichtsvereins, Dr. Beate Berger, und Dr. Frank Hadler, Vorstandsvorsitzender der Karl-Lamprecht-Gesellschaft, die im Neuen Rathaus stattfindende Tagung. In seiner Einführung verwies Prof. Dr. Helmut Bräuer (Leipzig) auf die in einem vorab versandten Thesenpapier zur Tagungsthematik ausführlich dargelegten Problemstellungen der von ihm konzipierten Konferenz

PD Dr. Katharina Simon-Muscheid (Bern/Basel) behandelte in ihrem Beitrag Armutsprobleme in oberrheinischen Städten des 15. und 16. Jh. Sie wählte den Zugang über die arbeitende Armut im Reb- und Gartenbau und skizzierte dann die neuen Diskursangebote, wie sie beispielsweise Geiler von Kaisersberg machte, dessen Reformprogramm u.a. alte Elemente der Luxusgesetzgebung mit dem Argument des "übermäßigen Trinkens" der Männer verband, das häufig die Verarmung der Familien zur Folge hatte. Der dritte Teil der Darlegungen war den Überlebenstechniken der Armen gewidmet. Von besonderem Interesse erwies sich in diesem Zusammenhang die Auswertung von Inventaren aus Kreisen der Tagelöhner, Randständigen und Bettler, die anderswo fehlen oder der Forschung bisher entgangen sind.

Armenfürsorge und Anti-Bettelstrategien in Mainz sowie im Rheingau während des 17./18. Jh. rückte Dr. Sebastian Schmidt (Trier) in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Im normativen Bereich sah er gegenüber dem Spätmittelalter eine generell härtere Gangart, die mit schärfer gewordenen Kontrollmechanismen des Staates und der Städte korrespondierte. In wachsendem Maße sei das Armenwesen in die gesamtstaatliche Ökonomie eingebunden worden. Zugleich habe man Stiftungen zunehmend zweckentfremdet. Der Referent konstatierte, dass die Hilfsmaßnahmen nirgendwo ausreichend waren, in der Stadt allerdings gezielter als auf dem Land erfolgten, was er vornehmlich auf die Weigerung der Klöster zurückführte, ihre Mittel zentralen Fonds zuzuführen.

Von einem in den letzten Jahren erhöhten Interesse am Innenleben der sog. geschlossenen Armenpflege, insbesondere der Bürgerspitäler, ließ sich Prof. Dr. Alfred Stefan Weiß (Salzburg) leiten. Für Kärnten und Salzburg stellte er bis ins 18./19. Jh. eine Zunahme des Unterschichtenanteils an der Insassenschaft der Bürgerspitäler fest, die es im Mittelalter noch nicht in dieser Form gegeben habe. Das führte innerhalb dieser Institute zu sozialen Stufungen und folglich auch zu einer Verschärfung der Disziplinierungsmechanismen. Zu diesen waren die entsprechenden religiösen Übungen zu rechnen, die einen zentralen Platz im Anstaltsleben einnahmen.

Falk Bretschneider (Paris) rückte am Beispiel des sächsischen Zuchthauses Waldheim dem bislang in der einschlägigen Forschung gepflegten Ansatz "Versorgen" und "Strafen" zu Leibe, der die Zuchthauspraktiken von allgemeinen, obrigkeitlichen Interessen her ableitet. Er verwies zunächst darauf, dass die Insassenschaft ein Mixtum aus Bettlern, körperlich bzw. geistig Behinderten, Devianten und Kleinkriminellen war, das auf - oft willkürliche - Verwaltungsakte hin zusammenkam. Dem war ein allgemeiner Diskurs vorgeschaltet, der auf der Differenzierung der Bedürftigen in "Versorgungswürdige" (Arbeitsunfähige) und "Bestrafenswerte" (Müßiggänger) beruhte. Das Zuchthaus sollte durch Zwangsmittel, v.a. Zwangsarbeit, den bürgerlichen Tugendkanon (v.a. Fleiß, Ordnung, Arbeitsamkeit und Pünktlichkeit) ausprägen helfen. Schließlich waren inneranstaltliche Strukturveränderungen notwendig, die die Häuser zu Instituten der Justiz machten, was die Auslagerung aller älteren Versorg-Einrichtungen (Armen-, Arbeits-, Irren- und Waisenhäuser) aus der ursprünglichen Anstalt zwingend erforderte.

Dr. Barbara Kink (Frauenberg/München) führte in die Armensituation und -bekämpfung einer bayerischen Hofmark im 17. und 18. Jh. ein, also einer ausgesprochen ländlichen Region. Ihre Untersuchungen basierten dabei auf Quellen eines privaten Schlossarchivs, in deren Zentrum Armenbeschreibungen aus dem genannten Zeitraum standen, die in dieser Form nicht massenhaft überliefert sind. Auf einer solchen Basis konnte die Referentin ein Sozialprofil entwerfen, das vor allem durch den schwankenden Arbeitskräftemarkt bestimmt wurde und deshalb sehr armutsanfällig war. Auch der bayerische Staat reagierte mit der bereits genannten Differenzierungsstrategie gegenüber den Armen. Von besonderem Interesse war die äußerst intensive Heranziehung der Untertanen zur Armensteuer, was Unmutsäußerungen der dörflichen Bevölkerungen auslöste.

Die Entstehung der Inneren Mission sah Prof. Dr. Gerhard Graf (Leipzig) als eine Reaktion auf die mit der einsetzenden industriellen Revolution angewachsenen Armutsprobleme an, wofür in Sachsen besondere Veranlassung bestand. Diese Form der christlichen Liebestätigkeit, entwickelt als Vereinsarbeit innerhalb der Landeskirchen, besaß ein breites Spektrum von Aktivitäten, das von Hilfen für Kinder, Jugendliche, Kranke und Alkoholiker bis zu Arbeitsvermittlungen und der Einrichtung von Volksbibliotheken reichte. Dass diese kirchlichen Aktivitäten auf den Widerstand der Sozialdemokratie stießen, war (ideologisch) verständlich, in der Sache freilich nicht gerechtfertigt. Wenn der Referent betonte, dass es besonderer Anstrengungen bedürfe, um durch gründliche Forschung auf diesem Gebiet "Nachholarbeit" zu leisten, so war dies legitim. Manfred Stedtler (Leipzig) unternahm im Konferenzverlauf einen gelungenen Versuch, der sich der kirchlichen Armenpflege in Leipzig um 1900 widmete. Er zeigte am Beispiel eines speziellen lokalen Untersuchungsgebietes, wie der Organisationsmechanismus funktionierte, welches Sozialprofil die Mitwirkenden und die Hilfeempfänger besaßen und machte vor allem das Zusammenwirken von städtischer, kirchlicher und privater Armenfürsorge deutlich.

Aus der Perspektive der historischen Volkskunde sprach Dr. Bernd Schöne (Dresden) über Armut im Erzgebirge im 19. Jh., einer Region, deren Bevölkerung seit jeher unter unsicheren sozialen Verhältnissen existierte. Der Referent rückte die heimgewerbliche Arbeitswelt mit dem vielfach seitens der Verleger-Unternehmer benutzten Trucksystem in den Mittelpunkt seiner materialreichen Ausführungen und behandelte im Kontext dieser Sphäre Familiensituationen, Wohnen und Heizen, Ernährung sowie "Ersatznahrungsmittel" und ging auf Alkoholismus und Nahrungsmitteldiebstahl in den Hungerperioden ein. Vom Staat sei die Bevölkerung in ihrer Not weitgehend allein gelassen worden.

Als Immanuel-Kant-Habilstipendiatin schöpfte Dr. Elke Schlenkrich (Wurzen) bei der Präsentation ihres Themas über die Pestzüge des späten 17. und beginnenden 18. Jh. in Sachsen und Schlesien aus ihrer derzeit laufenden weitgreifenden Forschungsarbeit. Hinter die Begriffe Handelsbeschränkungen, Hunger und Teuerung, Nahrungsmittelmangel, Betroffenheit des Handwerks, Verschließung der Seuchenhäuser und Pestwachen setzte sie die resümierende Formel "Pest macht arme Leute", betonte aber zugleich, dass sich dies mit Langzeitwirkungen verbinde, die bisher in der Forschung kaum gesehen worden seien. Weitgehend Neuland betrat sie mit ihren Untersuchungen zur Pest im Dorf, wo die demographischen und sozialen Folgen der Seuche sich kaum von denen der Städte unterschieden.

Dr. Sabine Veits-Falk (Salzburg) widmete sich am Beispiel der Salzburger Armenkassen dem Wirken der kommunalen Armenkommissionen im 19. und 20. Jh. Sie zeigte, wie aus den ursprünglichen Formen des Gemeinen Stadtalmosens und des "Armen-Bürgersäckl(s)", die im 16. Jh. eingerichtet worden waren, schließlich unter Erzbischof Graf Colloredo 1799 eine dauerhaft arbeitende Kommission entstand, deren schriftliche Hinterlassenschaft aufschlussreiche Einblicke sowohl in ihr Wirken - die Finanzmittelbeschaffung, Armenkategorisierung und Almosenausteilung -, gleichermaßen aber auch in die Struktur der armen Bevölkerung der Stadt erlaubte.

Der Beitrag von Dipl.-Hist. Dipl.-Archivarin Jutta Aurich (Chemnitz), die sich mit Stiftungsentwicklung, Stiftungsmotivation und Stiftungsnutznießern in Chemnitz beschäftigte, wurde in komprimierter Form vorgetragen, während das Referat von PD Dr. Frank Hatje (Hamburg) über Altersarmut in der Hansestadt des 19. Jh. - ebenso krankheitsbedingt - ausfallen musste.

Chemnitz als frühes Industriezentrum mit seinen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. beschleunigt verlaufenden Konzentrationsprozessen der Produktion zeitigte an der Wende vom 19. zum 20. Jh. tiefgreifende Verwerfungen auf dem lokalen Arbeitsmarkt. Dr. sc. Karlheinz Schaller (Chemnitz) ging in seinem Beitrag einigen der sich daraus ergebenden Problemen nach - insbesondere den Notstandsarbeiten, der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitsvermittlung als Maßnahmen der Stadt gegen die Arbeitslosigkeit. Er verwies daneben auf die mentalen Folgen von Arbeitslosigkeit, aus denen u.a. auch Aktivitäten gegen "Fremdarbeiter" erwuchsen.

Das gegenwärtige Verhältnis von Lokaler Ökonomie und Sozialer Arbeit behandelte konferenzabschließend Prof. Dr. Rita Sahle (Leipzig). Sie rückte hierbei den unmittelbaren Zusammenhang von (kapitalistischer) Ökonomie und der Ausschließung von Menschen aus der Gesellschaft in den Vordergrund und verdeutlichte die Grundprinzipien der Sozialen Arbeit, die freilich immer weniger greifen würden, wenn entsprechende Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt dafür sorgten, dass die Bemühungen um die Verbesserung der Zugangschancen zu (Aus-)Bildung und Arbeit nicht zu einer bezahlten Tätigkeit, sondern eben in die Arbeitslosigkeit führten. Am Beispiel eines Trierer Wohngebietsprojektes demonstrierte sie Möglichkeiten direkter lokaler Wirtschaftsförderung, die auf Lebensdienlichkeit abzielten.

Damit waren die Weichen für die Schlussdebatte gestellt, die sich um Arbeit und Arbeitsmarkt, Mechanismen der sozialen Disziplinierung und insbesondere um gesellschaftliche Perspektiven drehte, wofür Dr. Patrice Djoufack (Kamerun/Hannover) bereits am ersten Konferenztag mit seiner Frage einen wichtigen Impuls vermittelt hatte: Gibt es ein System zur Beseitigung der Armut? Die "Antworten" freilich waren ein Abbild des Dilemmas unserer Zeit. Sicher wird man sie momentan auch nicht anders erwarten können. Dennoch konnte Prof. Dr. Helmut Bräuer (Leipzig) in seinem Schlusswort eine weitgehend positive Bilanz der Konferenz ziehen. Das hochaktuelle Thema Armut ist hier interdisziplinär und vergleichend sowohl mit der nötigen historischen Tiefenschärfe als auch mit Gespür für die noch ungelösten Gegenwartsprobleme diskutiert worden.

Das Protokoll der Tagung, das vor allem auch den hier nicht zu referierenden Ertrag der außerordentlich regen Debatte dieser zweitägigen Konferenz festhalten wird, soll zur Frühjahrsbuchmesse 2004 in Leipzig erscheinen. Subskriptionswünsche für den Band, voraussichtlich im Umfang von 300 Druckseiten (17 Euro Subskriptionspreis, späterer Ladenpreis: 24 Euro), nimmt der Leipziger Universitätsverlag, Oststraße 41, D - 04317 Leipzig, bis 1. März 2004 entgegen. (http://www.univerlag-leipzig.de)